Marc Urlen
Die Bilder der Massenmedien
Wie einfache Bilder unser Denken und Handeln bestimmen
Dissertation am Fachbereich 5 der Universität Gesamthochschule Kassel 2005
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Einleitung
Die digitale Revolution ist eine der radikalsten und folgenreichsten in der Geschichte der Menschheit. Sie strukturiert ganz neu unsere Kommunikation und unseren Informationshaushalt. Die traditionellen, einst als selbstverständlich akzeptierten Schranken von Zeit und Raum verlieren ihre Gültigkeit. Das weltumspannende „Web“ ist eine Sphäre der Gleichzeitigkeit, in der die Schwere und Trägheit der Welt aufgehoben sind. Seine Daten sind von jedermann, jederzeit und von überall abrufbar. Seine Nutzer verschmelzen zu einer globalen Kommunikationsgemeinschaft.
Die Massenmedien des digitalen Zeitalters setzen neue Standards bei der Informationsvermittlung. Nachrichten erreichen uns ohne jede Filterung oder Verzögerung. Sie müssen nicht einmal mehr versprachlicht werden, erscheinen uns in Gestalt bewegter Bilder, machen uns zu Augenzeugen. Gleichzeitig ermöglichen immer mächtigere Computer die perfekte Aufbereitung der Wirklichkeit, ihre Verwandlung in fantastische, attraktive Produkte, die ganz unseren ursprünglichsten Wünschen und Vorstellungen entsprechen.
Die aktuellen Umbrüche im Bereich der Massenkommunikation ereignen sich dabei aber nicht zufällig oder chaotisch, sind vielmehr Konsequenzen langfristiger Entwicklungen. Während wir Menschen zu kulturellen Wesen werden, steigern wir kontinuierlich unsere Fähigkeit, mächtige Bilder zu produzieren. Schaffen zunächst Mythen und Legenden, später Glaubenssysteme und Ideologien. Die Moderne perfektioniert schließlich nicht nur die industrielle Massenproduktion materieller Güter, sondern ebenso die großer Bilder und Inszenierungen.
Dies festzustellen aber reicht nicht aus. Wir müssen klären, warum wir als Menschen so empfänglich sind für derartige Inszenierungen, die Perfektionierung dieses Vorgangs mit so viel Beifall aufnehmen. Letztlich sind all diese Entwicklungen Ableitungen der Art und Weise, wie wir als Menschen unsere Umwelt wahrnehmen, unserer Art zu denken: wie unser Gehirn eine unendlich komplexe Umwelt wahrnimmt, interpretiert, zuspitzt.
Meine These: Denken bedeutet, wesentliche Elemente der Umwelt zu identifizieren und in ein plausibles, handlungsleitendes Spannungsverhältnis zu setzen. Die Elemente dieser Denkprozesse entsprechen dabei Begriffen, die wir kommunizieren. Kommunikation verfolgt das Ziel, die Bedeutung und den Charakter der Elemente unserer Welt überindividuell auszuhandeln.
Zwischen unserem Denken und der Konstruktion plausibler Medienprodukte besteht ein wesentlicher Zusammenhang: So wie unser Gehirn unsere Umwelt auf verhaltensrelevante Faktoren zuspitzt, so konzentrieren die Medien die Gesellschaft auf einprägsame, starke Bilder. Die von der Medienindustrie perfekt konstruierten Bildwelten erscheinen uns deshalb als „plausibel“, weil sie mit unserem Denken in idealer Weise korrespondieren.
Im Zeitalter der Massenmedien bleibt das Erkennen der wesentlichen Elemente der Umwelt nicht länger dem Individuum überlassen, die Konstruktion von Weltbildern ist nicht länger ein Aushandlungsprozess innerhalb einer überschaubaren Gruppe. Die Medienindustrie produziert vielmehr Bilder von der Welt, die den durchschnittlichen Zuschauer ganz unmittelbar ansprechen und ihm auf einer unreflektierten Ebene als plausibel und selbstverständlich erscheinen.
Massenmedien bringen die Dinge „auf den Punkt“. Von den Nachrichtensendungen erwarten wir, dass sie uns die wichtigsten Ereignisse und Akteure in knapper, präziser Form präsentieren. Die Werbung soll in wenigen Sekunden ein positives Image des beworbenen Produkts vermitteln, führt uns ein Utopia totaler Erfüllung durch Konsum vor. Auch die Unterhaltungsindustrie spitzt komplexe gesellschaftliche Verhältnisse auf idealtypische Konstellationen zu.
Wie ordnen sich die unendlichen Eindrücke der Mediengesellschaft zu großen Bildern? Wie verarbeiten wir diesen endlosen Strom? Werden unsere Weltbilder präziser, können wir immer angemessener auf die Herausforderungen unserer Zeit reagieren? Wenig spricht dafür. Wir stellen vielmehr einen Zusammenhang fest zwischen dem Anwachsen realer Probleme und der Entwicklung immer effizienterer Verdrängungsmechanismen. Während sich globale Krisen immer weiter zuspitzen (Raubbau an nicht erneuerbaren Rohstoffen, Hunger, Armut, Krisen und Kriege), hat die „Kompetenz“ stark zugenommen, sie professionell zu verdrängen, ihre Relevanz in Frage zu stellen. Der Markt für Beschwichtigungen expandiert. Auch moderne Menschen wollen nicht verunsichert werden, verlangen vielmehr nach Versöhnung mit einer unüberschaubaren, chaotisch strukturierten Welt.
Hier treten die Massenmedien auf den Plan. Ihre Produkte sind verständliche Bilder von der Welt. Sie präsentieren prägnante Akteure und Konstellationen mit hohem Wiedererkennungswert. Eine wichtige Rolle spielen dabei nicht nur die „seriösen“ Medien, sondern auch der „Boulevard“, der eine objektive Bedeutung von Ereignissen pauschal in Frage stellt. Wichtig sei, was unmittelbar als wichtig erscheine. „Sensationen“ werden in den Blickpunkt gerückt – sei es das Sexualleben eines Tennisstars oder die Karriere von Big-Brother-Bewohnern.
Ich werde im Rahmen dieser Arbeit zeigen, dass derartige Fokussierungen nicht die Folge von Ignoranz oder bloßem marktwirtschaftlichen Kalkül sind. Sie sind vielmehr das Ergebnis der notwendig beschränkten Erkenntnisfähigkeit des Menschen. Ich werde zeigen, dass eine kritische Analyse der Mediengesellschaft möglich ist, die nicht einem an sich „schlechten System“ die Schuld an solchen Widersprüchen gibt – die allerdings einfordert, solche Mechanismen mitzudenken und zu thematisieren, statt unreflektiert den größtmöglichen ökonomischen Gewinn daraus zu ziehen.
Zielsetzung
In den letzten zwanzig Jahren wuchs vor allem das „positive“ Wissen um das „Gehirn und seine Wirklichkeit“. Dies hat nicht nur in den Neurowissenschaften zu einem Erstarken des Selbstbewusstseins geführt, sondern auch in den Zweigen der Gesellschaftswissenschaften, die sich auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse berufen. Während systemtheoretische und neurophysiologisch begründete Ansätze kaum noch in Frage gestellt werden, verstummen die „kritischen“ Stimmen, die Gesellschaft nicht nur beschreiben und verstehen, sondern möglichst auch verändern und verbessern wollen. Was, wenn sich Kategorien wie „gut“ und „schlecht“ als illusionäre Konstrukte erweisen sollten, ersponnen von Nervensystemen als unerhebliche Nebenprodukte ihres eigentlichen Zwecks, der Ermöglichung der Autopoiese des Menschen? Es ist nur allzu leicht, im Angesicht solcher desillusionierender Einsichten zu resignieren und alle Hoffnung fahren zu lassen, es sei überhaupt eine andere gesellschaftliche Wirklichkeit als die aktuell existierende denkbar.
Es ist zu zeigen, dass die derzeit typischen pragmatischen Untersuchungen nicht ohne Alternative sind und dass sich „kritische“ Positionen durchaus mit naturwissenschaftlichen und erkenntnistheoretischen Ansätzen vereinbaren lassen. Wenn wir genauer reflektieren, wie wir die Welt wahrnehmen, warum wir auf die synthetischen Inszenierungen der Massenmedien so perfekt ansprechen, können wir auch beurteilen, welche von den Medien suggerierten Problemlösungsmechanismen plausibel sind.
Diese Arbeit kann nicht für sich in Anspruch nehmen, sämtliche aufgezeigten Perspektiven zu Ende zu verfolgen und ein geschlossenes theoretisches System zu präsentieren. Am Ende sollen allerdings einige praktische Analysen von Medienprodukten zeigen, dass die theoretische Vorarbeit neue Perspektiven zu einer durchaus pragmatischen Analyse von Medieninhalten ermöglicht.
Analyse von Medienprodukten
Im zweiten Teil der Arbeit werde ich diese theoretischen Grundlagen auf die Analyse der Bilder der Massenmedien anwenden, sowohl in einer abstrakten theoretischen Form als auch in Bezug auf die „klassischen“ Genres Nachrichten, Unterhaltung und Werbung. Dabei soll gezeigt werden, dass die Bilder der Massenmedien besonders gut aufgenommen werden, wenn sie typischen Denkmustern entsprechen. Nicht die angemessensten Rekonstruktionen der Wirklichkeit finden den größten Beifall, sondern diejenigen, die uns als besonders „plausibel“ erscheinen. So setzen sich nicht die differenziertesten, sondern die versöhnlichsten Bilder von der Welt durch.
Zunächst werde ich einige Kinofilme näher untersuchen, die extrem erfolgreich waren, obwohl sie von der Kritik als „trivial“ und unerheblich abgetan wurden. Es ist zu zeigen, dass solcher Erfolg nicht etwa ein Indikator für den schlechten Geschmack des Publikums ist, sich vielmehr darauf zurückzuführen lässt, dass die Produzenten es verstehen, die Handlung auf ganz klare Konstellation zuzuspitzen. Der aktuelle Blockbuster ist ein Mythos aus der Retorte. An die Stelle der Überlieferung über Generationen tritt die geballte Professionalität der Filmschaffenden.
Doch die Konstruktion virtueller Wirklichkeiten ist kein Geschäft, das auf die Unterhaltungsindustrie beschränkt bliebe. Auch das angeblich so „ernsthafte“ Nachrichtengenre, das sich der Aufbereitung und der Verbreitung von Fakten verschrieben hat, geht ähnlich mit seinem Gegenstand um, nämlich der Realität. Komplexe Zusammenhänge werden auf simple Bilder reduziert. Wichtig ist nicht etwa eine angemessene Darstellung, sondern die Prägnanz und Plausibilität des Gebotenen. Ein verunsichertes Publikum giert nicht etwa nach „der Wahrheit“, sondern nach möglichst einfachen Erklärungen, nach möglichst schlüssigen, nachvollziehbaren Bildern von der Welt.
Thesen
1. Das Gehirn filtert aus einer Flut von Sinneseindrücken die wesentlichen heraus. Diese werden in handlungsrelevante Faktoren transformiert. Denken heißt, durch das Abwägen dieser Faktoren zu Handlungsentscheidungen zu gelangen.
2. „Denken“ ist ein subjektiver, kein objektiver Prozess. Es wird von Wünschen, Bedürfnissen, Ansprüchen und Emotionen geleitet.
3. Denken ist ein kollektiver Prozess. Der Charakter und die Bedeutung der wesentlichen Elemente der Welt werden in einem fortwährenden Prozess ausgehandelt. Dabei setzen sich nicht die (in einem wissenschaftlichen, objektivierbaren Sinne) angemessensten Vorstellungen von der Welt durch, sondern subjektiv und emotional plausibel erscheinende.
4. Massenmedien spitzen – wie Individuen - eine komplexe Umwelt auf verhaltensrelevante Faktoren zu. Sie produzieren starke Bilder. Der Makel der synthetischen Produktion dieser Bilder, ihrer Abstraktheit, wird dadurch aufgewogen, dass sie in idealer Weise mit verinnerlichten Denkmustern korrespondieren.
5. Massenmedien produzieren Sinn: plausible Arrangements plausibler Bilder. So schaffen sie typische Konstellationen, die typischen Auflösungen entgegenstreben. Sie bestätigen Vorstellungen, wie die Welt beschaffen sei, wie Probleme zu bewältigen seien. Derartige Sinnkonstruktionen werden wie beliebige andere Wirtschaftsgüter, die Befriedigung versprechen, produziert und konsumiert.
6. Bilder von der Welt, die unseren Denkstrukturen entsprechen, erscheinen als selbstverständlich, einleuchtend und unhinterfragbar: als „natürlich“. Sie sind darum aber noch lange nicht angemessen oder alternativlos.
7. Kommerziell orientierte Massenmedien verfolgen nicht das Ziel, ihre Rezipienten zu „manipulieren“. Die Nachfrage nach einfachen, plausiblen Erklärungen trifft vielmehr auf eine Industrie, die mit dem geringsten Aufwand das attraktivste Produkt schafft - um so ihre Gewinne zu maximieren.
8. Das Ergebnis sind Weltbilder, die wenig mit unserer komplexen, widersprüchlichen Welt zu tun haben, viel dagegen mit unseren Wünschen und Illusionen: mit der Vorstellung, wie die Welt sein soll.
9. Je größer die Effizienz der Massenmedien wird, plausible Bilder zu erzeugen und entproblematisierte Weltbilder zu konstruieren, desto unkontrollierter können sich die Widersprüche der realen Welt zuspitzen. Ideale Bilderwelten schaffen keine Lösungen, sondern optimieren Verdrängung und Verklärung.
Schlusskapitel
8.1. Methode / Thesen
Warum müssen wir uns mit erkenntnistheoretischen und systemtheoretischen Fragestellungen beschäftigen, wenn wir doch „nur“ die Produkte der Massenmedien analysieren wollen? Weil diese eben nichts anderes sind als „vorgedachte“, auf Konsens getrimmte Faktoren in einem kollektiven Denkprozess. Dabei besteht eine grundlegende Korrespondenz zwischen überindividueller Kommunikation und individuellen Denkprozessen. Akzeptiert man diese einfachen Prämissen, so wird es allerdings notwendig, die Erkenntnisse zahlreicher Disziplinen zu berücksichtigen. Dabei ist eine gewisse „Oberflächlichkeit“ unausweichlich, da die genaue Behandlung und Kritik aller angeführten gesellschaftswissenschaftlichen, psychologischen, philosophischen und anthropologischen Ansätze den Rahmen dieser Arbeit sprengen würden. Das vollständige Bild ergibt sich nicht, wenn wir einzelne Punkt herausgreifen und bis ins Kleinste bestimmen, sondern wenn wir alle wesentlichen Aspekte in ein plausibles Verhältnis rücken, ihre strukturellen Funktionen angeben. Natürlich ist dies auch wieder ein „Denkprozess“, der das Ziel verfolgt, die Umwelt auf eine überschaubare Anzahl von Faktoren zu reduzieren. Allerdings werden hier die Strukturen dieses Denkens mitgedacht, so dass wir ein theoretisches Gerüst erhalten, das seine Entstehung und seine Bedingungen reflektiert. So gelangen wir auf eine Metaebene: die Theorie von der Theorie, die Erkenntnis der Erkenntnis etc. Doch dies heißt nicht, sich in der Abstraktion des Abstrakten zu verlieren, sondern vielmehr den Blick auf das Konkrete zu schärfen, die Phänomene des Alltags präziser einordnen und analysieren zu können.
8.2. Zusammenfassung: Bilder und Fiktionen
Die Massenmedien verbreiten nicht etwa eine willkürliche Flut zufälliger Informationen und Meinungen, vielmehr eine überschaubare Anzahl hoch zugespitzter Bilder, die überindividuelle Objektivität beanspruchen. Ein Heer von Spezialisten sammelt Informationen, filtert und spitzt sie zu, verarbeitet sie zu Nachrichten und Unterhaltungsspektakeln, die schließlich tausend- oder millionenfach verbreitet und empfangen werden. Ein Vorgang analog zum individuellen Denken: Das Gehirn selektiert relevante Informationen aus einer Flut von Daten, die die Sinnesorgane empfangen. Diese kommen uns als Faktoren unseres Denkens zu Bewusstsein und bestimmen unser individuelles Handeln. Ebenso bestimmen die von den Massenmedien produzierten Bilder das gesellschaftliche Handeln. Die Gesellschaft „denkt“ also, denn Denken bezeichnet das Abwägen handlungsrelevanter Faktoren. Wir haben es mit der überindividuellen Abwägung von gemeinsamen Bildern zu tun, deren Bedeutung und Charakter ständig aufs Neue ausgehandelt und synchronisiert werden.
Daraus folgt, dass es die Massenmedien gar nicht als ihre Aufgabe ansehen können, Illusionen zu zerstören, kurzschlüssige Weltbilder in Frage zu stellen. Ihnen ist in der modernen Welt eine pragmatischere Aufgabe zugefallen: die einfachen Vorstellungen der Menschen in überzeugende Bilder zu verwandeln. Sie schaffen in sich geschlossene Bild- und Assoziationswelten, die für sich in Anspruch nehmen, Mensch und Wille, Gesellschaft und Individuum endlich zu versöhnen[1].
Die Bilder der Massenmedien, die so entstehen, befriedigen die Grundbedürfnisse nach Orientierung und Sinn. Dies hat weit reichende ökonomische Folgen. Die Medienindustrie kann auf rentable Weise Angebote produzieren, nach denen unbegrenzte Nachfrage besteht. Die privat-kommerzielle Medienlandschaft ist der Marktplatz, auf dem Weltbilder ausgehandelt und Träume feilgeboten werden. Die aufbereitete Welt der Medien korrespondiert mit den unreflektierten Vorstellungen der Zuschauer. Was sie fürchten, sehen sie nicht – was sie verdrängen, zeigt auch das Fernsehen nicht. Es zelebriert stattdessen Ideale und Idole, bauscht Unbedeutendes, aber Bewegendes auf und lenkt die Aufmerksamkeit auf vorgeblich Exemplarisches: auf Ereignisse, die allgemeinen Vorstellungen entsprechen. Hier knüpft die fiktionale Unterhaltung nahtlos an: indem sie Situationen präsentiert, innerhalb derer konventionelle Strategien der Konfliktlösung funktionieren (Heldenmut, Aufopferung, Leistungsbereitschaft, Unterordnung etc.).
Wenn aber die Bilder der Massenmedien auf solch ideale Weise mit unserem Denken, mit überindividuell ausgehandelten Vorstellungen korrespondieren, kann man diesen Umstand dann überhaupt „kritisieren“, d. h. grundsätzlich in Frage stellen? Ich bin der Meinung, dass man das sogar muss. Denn wenn das geschlossene System, das wir gemeinsam zu der Welt verklärt haben, immer wieder geheiligt und bestätigt wird, wird es überhaupt unmöglich, noch Grenzen und Widersprüche dieses „Organismus“ aufzuzeigen. Was heißt das konkret? Dass es immer schwerer wird, die destruktiven und aggressiven Tendenzen und Fehlentwicklungen unserer modernen Welt aufzuzeigen. Ein System aber, dass interne Fehler nicht erkennen und korrigieren kann, droht zu scheitern.
Die moderne Welt verfügt über eine interessierte, eine geradezu informationssüchtige Öffentlichkeit – nicht aber über eine „kritische“. Der Überfluss an Informationen führt nicht zu mehr Verständnis für die komplexen Zusammenhänge unserer Welt. Vielmehr vergrößert sich die Effizienz, fragwürdige und widersinnige Leitbilder durchzusetzen und Unangenehmes zu verdrängen. Immer schwerer wird es, den illusionären Charakter lieb gewonnener Bilder zu demaskieren. Dies hat weit reichende Folgen für die Gesellschaft. Einfache Bilder verdrängen differenzierte Darstellungen vom „Markt“. Die Politik sieht sich in der Zwangslage, den Menschen die gleichen Bilder bieten zu müssen, die die Massenmedien durchgesetzt haben: klar und widerspruchsfrei, zugespitzt und handlungsrelevant. Man lässt sich lieber „blühende Landschaften“ versprechen, als einer trostlosen Wirklichkeit ins Auge zu schauen. Die Massenmedien tragen eifrig dazu bei.
8.3. Schluss
Wir sind längst eingeschlossen in eine Luftblasenwirklichkeit überlebensgroßer Bilder. Im Angesicht professionell produzierter Inszenierungen verblasst die eigene Urteilskraft. Die meisten Bilder, die die Massenmedien verbreiten, sind bei näherer Untersuchung nicht einmal plausibel. Das machen sie aber wett, indem sie auf ideale Weise mit allgemeinen, anscheinend unhinterfragbaren Denkstrukturen korrespondieren. Die Welt wird transformiert in ideale Arrangements hoch zugespitzter Bilder. Diese allerdings sind nicht authentisch, werden nicht kritisch reflektiert, erscheinen vielmehr als „selbstverständlich“, in ihrer Bündelung als überwältigend. Was sich dagegen nicht in faszinierende Bilder verwandeln lässt, wird als unwesentlich abgetan oder gar als feindlich verfolgt.
Die Massenmedien verbreiten starke, emotional aufgeladene Bilder. Deren Elemente sind als wesentlich identifizierte Objekte der gemeinsamen Umwelt, die in charakteristische Spannungsverhältnisse gesetzt werden. Ob uns diese Arrangements als plausibel erscheinen, hängt dabei nicht von ihrer objektiven Angemessenheit ab, sondern davon, ob sie uns instinktiv als „richtig“ erscheinen, weil sie mit verinnerlichten Vorstellungen von der Welt übereinstimmen. Die Bildern, die so entstehen, haben die Schwelle abstrakter Logik längst überschritten, sind eine ideale Symbiose mit den menschlichen Organismen eingegangen, die sich mit ihnen identifizieren, deren Grenzen und Unzulänglichkeiten sie kompensieren.
Wenn wir heute immer deutlicher an die „Grenzen des Wachstums“ stoßen, so wird uns bewusst, dass wir schon lange nicht mehr über die Bilder, die angenehmen Illusionen, herrschen, vielmehr von ihnen beherrscht werden. Nur wenn die Identität von Sein und schönem Schein in Frage gestellt würde, wenn wir zu einem reflektierteren Umgang mit den Bildern der Massenmedien fänden, ließe sich an dieser Situation etwas ändern. Dies ist im Kern die gleiche Schlussfolgerung, die Adorno schon in der „Negativen Dialektik“ zog: Nur wenn illusionäre Identitäten in Frage gestellt würden, sei „Versöhnung“ möglich.
Diese Arbeit soll nur einige Denkanstöße geben. Doch schon in dieser provisorischen und simplen Form eröffnen die skizzierten Modelle interessante Ansätze, die Bilder der Massenmedien mit größerer Präzision zu analysieren: indem wir nämlich ihre Funktion als Faktoren in Entscheidungsprozessen berücksichtigen. Dies erlaubt zu fragen: Warum wird ein spezifischer Sachverhalt gerade so zugespitzt? Folgt die Darstellung aus dem Gegenstand oder aus der Art, wie wir denken? Können Medien objektiv berichten oder suggeriert die bloße Präsentation eines Sachverhalts notwendig schon Lösungen? All dies sind Fragen, auf die die meisten vorhandenen Ansätze keine befriedigenden Antworten geben.
aus Marc Urlen - Die Bilder der Massenmedien (2005 / 2012)